Von der Annäherung zur Gemeinsamkeit.
Gedanken von Eberhard Schallhorn zum 15. Jahrestag der Gründung des Landesverbandes Sachsen im Verband Deutscher Schulgeographen im Jahre 2015
Es ging alles ziemlich schnell, damals, 1989, als Unerhörtes selbstverständlich wurde. Die Phrasen der – nicht nur – Sonntagsreden erhielten einen ganz neuen Wahrheitsgehalt, der gewöhnungsbedürftig war: „Unsere Schwestern und Brüder in der DDR“ – oder wie immer man, je nach Stellung im politischen Spektrum, den anderen Teil Deutschlands im Westen nannte. Oder „Berlin muss und wird wieder Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands werden.“ Alle wurden von der plötzlichen, zunächst kaum zu glaubenden, neuen Konstellation der weltpolitischen Koordinaten überrascht. Vom äußersten deutschen Südwesten aus klang schon immer alles etwas dumpf, was den fernen Osten betraf, der für viele seinen Anfang bereits im Hohenlohischen nahm. Die mentale Karte verzeichnete Öhringen und Crailsheim, dann kam noch irgendwo Nürnberg – im Anschluss daran war der Bundesgrenzschutz zuständig, und nach Berlin zur Mauerschau ging es ohnehin über Stuttgart, per Luft. Einige unentwegte Lehrer bemühten sich, auf dem Landweg Berlin zu erreichen, sogar Station zu machen an der Stacheldrahtgrenze – Mödlareuth, das damals geteilte Dorf, Hirschberg, wo es den Schülern den Rücken herunterkribbelte, wenn sie die scharfen Schäferhunde „drüben“ an den Laufleinen sahen. Und plötzlich war alles anders.
Auf dem Rückweg vom 21. Deutschen Schulgeographentag Kiel um Pfingsten 1990 wich ich von der Autobahn ab, folgte einer frisch asphaltierten Straße nach Osten, wo bisher keine gewesen war. Die Grenze: Ein neues Holzhäuschen, kein Schlagbaum. Ich folgte den Straßenschildern und der topographischen Karte aus dem Westen, in der auch Unbekanntes östlich der Grenze kartographisch erfasst war. Rechts, links, rechts. Erst als die Straße zum Weg geworden war und schließlich im Wald endete, erinnerte ich mich an Gerüchte, im östlichen Zonengrenzbereich seien die Richtungsangaben falsch – um den „Feind“ in die Irre zu führen. Freundliche Eichsfelder wiesen mir den Weg zurück.
In Kiel waren zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder Schulgeographen aus der DDR unter den Teilnehmern, herzlich willkommen waren sie. Man verstand sich, man fühlte sich verbunden, die „von drüben“ erschienen gleichwohl irgendwie noch aus einer anderen Welt. Dann die gemeinsame Tagung in Bad Helmstedt im Herbst 1990. Unvergessen der Spaziergang mit Frank Czapek auf dem Patrouille-Betonweg der DDR-Grenzsoldaten auf der Ostseite der Grenze. Plötzlich der Wachturm vor uns, den wir immer von der Autobahn aus gesehen hatten, oben in der Wachstube waren immer die Grenzsoldaten, immer mit Ferngläsern vor den Augen. Wir treppelten hoch. Und dann – unvergesslich – erlebten wir beide die deutsche Einheit, indem wir von oben, von der ehemaligen, jetzt wütend zerstörten Wachstube der DDR-Grenzer, durch die zerborstenen Fensterscheiben auf die weiträumigen DDR-Anlagen des ehemaligen Grenzübergangs Marienborn hinuntersahen, auf die breite, wüste Schneise des bisherigen Grenzverlaufs, auf den Autobahnverkehr, wie die Autos ohne Unterlass, ohne Zögern die weiße Grenzlinie überfuhren und an dem Betonpfeiler ohne DDR-Staatswappen vorbei in die Spuren nicht mehr hineinfuhren, denen bis zu den Abfertigungsstellen zu folgen bis vor kurzem unausweichlich war.
Die Helmstedter Tagung vermittelte Nähe, Verständnis und Bereitschaft zum Dialog zwischen den Schulgeographen/innen aus den bisherigen beiden Teilen Deutschlands. Kaum einer fuhr nach dem Frühstück am zweiten Tagungstag frustriert ins östliche Zuhause, einzelne doch. Die westlichen Landesverbände übernahmen Patenschaften für östliche, der LV Baden-Württemberg für den LV Sachsen. In Gesprächen mit den Kolleginnen/en „von drüben“ erlebten wir persönliche Schicksale, die bedrückten, aber auch – manchmal schwejkhafte – Einzelheiten aus Lebensverhältnissen, in denen man sich mit einem ungeliebten Staat arrangieren musste. Nicht alle sahen die Zukunft nur rosig.
Schon ein Jahr später ist im Protokoll der Sitzung des Gesamtvorstands am 22. September 1991 in Basel vermerkt: „Der 1. Vorsitzende des Verbandes Deutscher Schulgeographen [Dr. D. Richter] hebt einleitend hervor, dass nunmehr auch die neuen Landesverbände ordnungsgemäß ihre Vorstände gewählt haben. (…) [Schatzmeister] Diehl beziffert die Zahl der Mitglieder in den bisherigen Ländern auf über 4000. Mit den Mitgliedern in den neuen Ländern bewegt sich die Gesamtzahl deutlich gegen 5000.“
Im Oktober 1991 besuchte der Landesvorstand Baden-Württemberg den Landesvorstand Sachsen um Herrn Dr. Frey in Dresden. Leider musste ich selbst – damals 1. Vorsitzender des Landesverbandes Baden-Württemberg – im letzten Augenblick die Teilnahme absagen. Aber alle Mitreisenden zeigten sich erfüllt vom Erfolg der Reise, beide Seiten hatten voneinander gelernt. Ein Wiedersehen in Sachsen gab es beim 24. Deutschen Schulgeographentag, der 1994 schon in Dresden stattfand – die Frauenkirche war noch ein Schuttberg, die alten Steine wurden aber schon nummeriert. Vorher, beim 23. Deutschen Schulgeographentag 1992 in Karlsruhe, war das Neue noch spürbarer. Die Vielfalt des Programms irritierte angesichts langer Erfahrungen mit zentral gesteuerten Fachtagungen den einen oder die andere aus den östlichen Landesverbänden. In den Folgejahren zog der Tross der Geographinnen und –en aus Schule und Hochschule schon beinahe routinemäßig zu ihrem traditionellen Fachkongress in die nun nicht mehr so neuen Bundesländern: 50. Deutscher Geographentag in Potsdam 1995, 25. Deutscher Schulgeographentag in Greifswald 1996, 53. Deutscher Geographentag in Leipzig 2001, 29. Deutscher Schulgeographentag in Berlin 2004.
Es ist der Alltag mit seinen Höhen und Tiefen in ganz Deutschland eingekehrt, auch in den Landesverbänden des Verbandes Deutscher Schulgeographen. Für unsere Schülerinnen und Schüler ist die Einigung Deutschlands ein historisches Ereignis, die meisten haben keinen persönlichen Bezug dazu. Die jährliche Erinnerung daran um den 3. Oktober findet mäßiges Interesse, die durch Film oder Bild visualisierten ungeschminkten Emotionen werden eher als Fiktion denn als Realität angesehen. Die ganz normalen Schwierigkeiten der Verbandsarbeit haben inzwischen auch bei der Arbeit der „neuen“ Landesverbände Einzug gehalten. Unser Fach hat sich in allen Landesverbänden mit sehr ähnlichen Problemen auseinander zu setzen. Die Lehrerschaft in den östlichen Bundesländern sieht sich allerdings gegenüber der in den westlichen in vielerlei Hinsicht benachteiligt. Zurecht. Im Verband Deutscher Schulgeographen gibt es aber – glücklicherweise – keine östlichen oder westlichen Landesverbände. Mancher der „östlichen“ Landesverbände, und dazu zähle ich auch den sächsischen – gibt anderen ein nachahmenswertes Beispiel für erfolgreiche Lobby- und Verbandstätigkeit. Zu dieser verbandsinternen Einigung haben alle auf ihre Weise beigetragen. Heute sagt man dann: „Und das ist gut so.“ Herzlichen Dank an den Landesverband Sachsen, herzlichen Dank an alle, die zu dieser Einigung in den vergangenen 15 Jahren, jede/r auf seine Weise, beigetragen haben.
- Emeritierung von Prof. Dr. Wolfgang Weischet (Universität Freiburg i. Br.) im Jahre 1997 – Würdigung des Landesvorsitzenden des VDSG/BAW, Eberhard Schallhorn